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Mit Jürg Hassler auf der Suche nach der verlorenen Kindheit

Autor:in

Thomas Imbach

Datum

18. Januar 2022

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Fünfundzwanzig Jahre lang hat Jürg Hassler als Kameramann und Cutter mit Thomas Imbach zusammengearbeitet. In seinem Essay erinnert sich der Regisseur an die gemeinsamen Filme und ihre stille Übereinkunft, als Filmer niemals erwachsen zu werden.  

Bei Jürg «durfte» ich alles wie bei meinem Grossvater: Cola trinken, rauchen, im Restaurant etwas trinken, in seiner Werkstatt ein Floss bauen.

Ich wurde Mitte der 80erJahre in eine kleinwüchsige Deutschschweizer Filmlandschaft hineingeboren. Schon seit dem Ende der 70er schwebte der Meister von Rolle als unerreichbarer Stern am Himmel über dem Genfersee.  Nachdem weder Godard noch Kluge auf meine Anfrage, ihnen bei der Arbeit über die Schulter schauen zu dürfen, reagiert hatten, sah ich mich nach alternativen filmischen Engagements um. Beim Film-Video-Performance-Festival VIPER in Luzern, das nach seinem Umzug nach Basel leider gestorben ist, war ich für die Pressekommunikation zuständig und programmierte die frühen Filme von Lars van Trier, Roman Signer oder Peter Liechti mit. Mit dem damaligen Festivalleiter Christoph Settele kuratierte ich eine Retrospektive der deutschen Experimentalfilm-Legende Werner Nekes in zahlreichen kommunalen Kinos der Schweiz.

Nach meinen ersten beiden eigenen (fast) kinolangen Filmen «Schlachtzeichen» und «Restlessness» suchte ich für mein nächstes Projekt «Busyness» (später: «Well Done») einen Kameramann, der sich auf die Darsteller*innen vor der Kamera einlassen und ihnen auch zuhören konnte während der Szene. Zum ersten Mal erlebte ich Jürg Hassler an einer Veranstaltung in der Roten Fabrik , wo er im Gespräch mit der legendären Filmkritikerin Corinne Schelbert seinen Film «Welche Bilder kleiner Engel, wandern durch dein Angesicht» von 1986 vorstellte. Bei meiner ersten persönlichen Begegnung mit Jürg spazierten wir entlang der langen Rampe des alten Güterbahnhofs Richtung Langstrasse. Das war 1992, und er kündigte mir an, er wolle nächstes Jahr mit seiner neuen Frau nach Martinique auswandern. Ich engagierte ihn dennoch auf Risiko.

Neun Monate in der Bank

Auf dem Dreh von «Well Done» lernten wir uns dann Schritt um Schritt besser kennen und schätzen. Die Idee, mit der Kamera in eine Schweizer Bank hineinzugehen und unabhängig drauflos zu drehen, war damals für einige Doyens der Filmszene nicht koscher: «Entweder machst du einen Werbefilm für die Bank, oder du machst keinen Film», beschied mir ein Kommissionsmitglied. Es war die Zeit kurz nach dem Ende des kalten Krieges, die Angst vor Moskau hatte sich damals verflüchtigt. Jürg erkannte diese historische Dimension sofort und motivierte mich, nicht nachzugeben.

Auch bezüglich der filmischen Umsetzung freundete er sich sofort mit der kleinen Hi8-Handycam an und nahm sich sämtliche Freiheiten im sterilen Büroalltag. Während rund neun Monaten waren wir unterwegs in der Telekurs (heute SIX), dem technischen Herz der Schweizer Banken, und bekamen als zwei «schräge Vögel» einen Badge, mit dem wir uns frei bewegen konnten. Natürlich war ich bedacht darauf, dass wir beide in der Bank sauber rüberkamen, und kontrollierte auch Jürgs Garderobe. Er liess sich davon nicht einschüchtern und rückte den Angestellten mit der Handycam ganz organisch auf den Leib. Dass er sich nicht hinter der Kamera verschanzte, sondern sich am Dialog mit der Goldcard-Sachbearbeiterin und dem Product Manager aktiv beteiligte, trug wesentlich zum Gelingen des Drehs bei.

Warten auf die Kids

Bei «Ghetto» konnten wir die Qualität unseres Zusammenspiels noch steigern; die Kids waren unfassbar und ständig in Bewegung, ein Drehplan illusorisch. Wir passten uns ihrem  Rhythmus an und lagen jeweils auf der Lauer, bis sie irgendwo auftauchten. Von Alexander J. Seiler («Siamo italiani») wurden wir damals zu einem Focal-Seminar eingeladen. Beim Warten auf die Kids entwickelten wir 1995 dafür unsere Thesen über das Filmemachen. Diese wurden zwar nicht ganz so berühmt wie das dänische Dogma aus demselben Jahr, aber bis heute leisten sie als Inspiration bei Filmschulen-Workshops immer noch gute Dienste: http://www.bachim-film.ch/ghetto/downloads/thesen/thesen95_D.pdf

Bei beiden Filmen haben wir sowohl mit kleinen Handycams in Hi8 und DV als auch auf Zelluloid für die Architekturen und Landschaften gedreht. Bei «Well Done» noch mit einer gemieteten S-16mm Kamera, bis ich entdeckte, dass Jürg selber eine alte Arri 35mm-Kamera bei sich zuhause rumliegen hatte. Mit einer neu gebauten Batterie konnte ich sie wieder flott machen, und wir hatten sie dann beim «Ghetto»-Dreh auf Abruf im Kofferraum. Gleichzeitig begann ich, die unbelichteten Resten auf den Filmrollen aufzubrauchen, indem ich aus meinem Atelierfenster filmte. Daraus wurde 15 Jahre später «Day Is Done».

Mit «Well Done» und Ghetto erregten wir einiges Aufsehen in der Filmszene und bekamen darauf vom Fernsehen die Einladung, einen Film anlässlich des Jubiläums «150 Jahre Bundesverfassung» zu drehen: «Nano-Babies». Das Angebot war so lukrativ, dass ich auf mein Projekt in einer südafrikanischen Township verzichtete, die ich ein Jahr zuvor auf einer Pro-Helvetia-Reise entdeckt hatte. Unsere Zusammenarbeit entwickelte sich dann für «Happiness Is a Warm Gun» bei der Inszenierung von Vollblut-Schauspieler*innen weiter. Jürgs Talent, sich auf die Darsteller*innen einzulassen, vertrug sich bestens mit den Anforderungen des Spielfilms. Sie liebten ihn alle , und viele Aufregungen auf dem Set konnten mit Jürgs grossherziger Präsenz je nach Bedarf beruhigt oder intensiviert werden.

Ein Winter- und ein Sommerfilm

Der Höhepunkt unseres Paarlaufs als «Partner in Crime» waren dann der Winterfilm «Lenz» und der Sommerfilm «I Was a Swiss Banker». Jürg war damals schon im Pensionsalter und nahm einige Strapazen auf der Skipiste und in der Luft in Kauf. Als ich mich wegen einer Grippe in mein Zimmer verkroch und das Matterhorn beobachtete, damit ich im richtigen Moment die Kamera auf dem Balkon auslösen konnte, baute er mit dem Rest der Crew ein Iglu für die Szene des »Künstlergesprächs» und beschenkte mich einmal mehr mit seiner handwerklichen Fertigkeit und Kreativität.

Während sich bei «Lenz» Wirklichkeit und Fiktion in jeder Szene kombinieren, wagten wir uns bei «I Was a Swiss Banker» noch mehr ins Reich der Fabel vor. Für uns beide war es der Film mit den grössten körperlichen Risiken. Der Deal war, dass ich die Kamera unter Wasser führte, während er für die Luftaufnahmen zuständig war. Auch unser Hauptdarsteller Beat Marti bewies Mut, als er für eine Actionszene mit einem eigenen Gleitschirm abhob. Jürg setzte sich mit der Kamera auf den Taxisitz eines Paragliders und filmte, wie die Hexe im Helikopter den schwebenden Roger verfolgt. Als der Kameraschirm in den Strudel des Helikopterwirbels geriet, gab es einen heiklen Moment für Jürg, doch der Profiglider schaffte es wieder, Luft in die Segel zu bringen.

Auch im Wasser gab es heikle Momente: Als wir zu zweit mit einem Motorboot die Unterwasserfelsen vor der Insel Ufenau erkundeten, band ich mir für ein spontanes Unterwasser-Travelling ein Seil um die Brust. Dummerweise geriet es in die Schiffschraube und zog mich unter das Boot, wo ich kaum nach Luft schnappen und mich nur mit Mühe und Not wieder hervorretten konnte , nachdem Jürg geistesgegenwärtig den Schiffsmotor abgestellt hatte.

Einander alles abverlangt

Ich vermisse die Zusammenarbeit mit Jürg. Er hat mich gelehrt, keine Kompromisse zu machen. Er hat es mir ermöglicht, meine kinematografische Stimme zu finden, und er hat mich ermuntert, mich von «professionellen» Sachzwängen nicht einschüchtern zu lassen. Bei allen Filmen hatten wir lebhafte Diskussionen und haben stets um die beste Lösung gerungen. Unsere Zusammenarbeit ging weit über das »Professionelle» hinaus, es spielten immer auch private und persönliche Interessen eine Rolle. Ich habe unendlich viel von Jürgs grosszügiger Präsenz profitiert und mich auch immer wieder gegen seine Laissez-faire Haltung aufgelehnt. Insbesondere bei der gemeinsamen Montage haben wir uns als Sparring Partner alles abverlangt.

Während die Drehs Abenteuer waren, bei denen wir wie auf einem Floss den wilden Fluss hinunter manövrierten und die Hindernisse elegant umschifften, waren die Tage am Schneidtisch auf eine ganze andere Art und Weise intensiv. Wir vergruben uns im reichhaltigen Rohmaterial und wälzten die ungelösten Schnittprobleme nach der Arbeit mit Wein und Pasta beim Italiener weiter. Eine besondere Angewohnheit von Jürg ist es einzunicken, wenn etwas uninteressant ist – eine Gabe die auch schon mein Grossvater besass. So hiess eine unserer Thesen: «Habe keine Angst bei laufender Kamera einzuschlafen.» Auf dem Dreh war es eher schwierig, diese Begabung produktiv umzusetzen. Doch beim Schnitt wusste ich sofort, wann die Szene «zum Einschlafen» war.

Dass es uns gelang, während 25 Jahren zusammenzuarbeiten, verdanken wir sicher auch unserem Altersunterschied von 24 Jahren. Jürg könnte mein Vater sein. Als wir uns kennenlernten, war ich ein Jungspund und er Mitte Fünfzig. Doch hatten wir auch biografische Gemeinsamkeiten, unsere beiden Söhne kamen fast im gleichen Jahr auf die Welt. Eine weitere Gemeinsamkeit war, dass wir uns beide in der offiziellen Filmschweiz nie richtig heimisch gefühlt haben. Man hielt uns für Mavericks, die alles selber machen, und behandelte uns als Cinéma-Copain-Filmer, die ohne Budget auskommen. Die offizielle Filmschweiz hat gespürt, dass wir beide «Kinder» sind, die nicht erwachsen werden wollen, dass wir uns in unserer Adoleszenz austoben und nicht anpassen werden. Ich finde, das ist Jürg gut gelungen.

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