Der Filmemacher und «Arbeiterregisseur» Alvaro Bizzarri ist am 5. Dezember im Alter von 90 Jahren verstorben. In den 1970er Jahren dokumentierte er die Situation von Migrant:innen und Saisonarbeitskräften in der Schweiz. 1934 in der Toskana geboren, kam er 1955 nach Biel. Er arbeitete als Schweisser in einer Fabrik und interessierte sich dank dem Besuch der Colonia Libera Italiana in Biel und der lokalen Filmclubs zunehmend fürs Kino. Da er keine Filmschule besuchen konnte, verliess er die Fabrik und wurde Angestellter in einem Fotogeschäft, wo er die Grundzüge des Handwerks erlernte und erste Super-8-Filme drehte. So begann er, den Saisonarbeiter:innen, die getrennt von ihren Familien lebten, eine Stimme zu geben und von ihren harten Lebensbedingungen zu berichten. Fast zufällig entdeckt von Gian Maria Volonté und dann von den Schweizer Filmemachern, die an den Solothurner Filmtagen anfang der 1970er Jahre Geld sammelten für eine Kopie von «Lo Stagionale» sowie für deutsche Untertitel, um den Film in die Deutschschweiz und nach Deutschland zu bringen.
«Ich hatte keine Technik, nur den Wunsch, zu dokumentieren und das Bewusstsein zu wecken», erinnerte sich Alvaro Bizzarri. Und genau das hat er sein ganzes Leben lang getan.
Die Forscherin Morena La Barba, die 26 Jahre lang eng mit Alvaro Bizzarri zusammengearbeitet hat und sein riesiges Archiv gut kennt, hat den folgenden sehr persönlichen Gastbeitrag als Hommage an ihn verfasst. Die 60. Solothurner Filmtage werden an das grosse Werk Bizzarris erinnern – mit einer Vorführung von «Lo stagionale» in Anwesenheit seiner Familie und Morena La Barbas. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank für diesen Moment des Gedenkens.
Alvaro Bizzarri. Das universelle Werk eines besonderen Regisseurs.
Lieber Alvaro,
dir einen Brief zu schreiben, fühlt sich für mich ganz natürlich an. Denn du hast ja selbst jahrzehntelang unendlich viele geschrieben. Dichte Seiten, um Unterstützung und Anerkennung für deine Arbeit zu erbitten, um deine eigene Geschichte und die der Protagonisten deiner Geschichten zu erzählen.
"Ich verliere das Gedächtnis", hast du mir in der Woche vor deinem endgültigen Abschied am Telefon gesagt, "ich erinnere mich nur noch an die weit zurückliegenden Dinge, das Fahrrad aus meiner Kindheit, ich erinnere mich an alles aus der Vergangenheit, und es ist eine klare Erinnerung".
Du warst ein glückliches Kind. Du hast mir erzählt, wie schön deine Schule in Campo Tizzoro in der Toskana war. Du hast mir den Balkon gezeigt, auf dem du, ohne Wissen deiner Mutter, nachts hocktest, anstatt zu schlafen, um den Geschichten der Partisanen zu lauschen, die in der Bar gegenüber dem Haus deiner Kindheit sassen.
Die "Heldentaten der Partisanen" sind nicht das einzige Vermächtnis des Krieges, an das du dich erinnerst. Auf dein Haus fiel auch eine Bombe, die einen Nachbar tötete und deinen Bruder schwer verletzte. "Vor deinen Augen", schriebst du auf die Blätter, die ich auf deinem Schreibtisch fand. "Der traurigste Tag deines Lebens" hattest du in letzter Zeit zu schreiben begonnen, weil das Filmemachen immer mühsamer und komplizierter geworden war.
Und dann die Geschichte von Enrico Pieri, deinem Kampfgefährten in der Colonia Libera in Biel. Beim Massaker der Nazis in Sant'Anna di Stazzema wurde er als Kind unter den Leichen seiner Familienmitglieder geborgen. Er war der Hauptdarsteller deines letzten Dokumentarfilms, Sant'Anna. Per non dimenticare (2008). Du hast den ganzen Prozess dokumentiert, der dank der Entdeckung von im sogenannten "Schrank der Schande" versteckten Dokumenten stattfinden konnte. Enrico hatte seine Tragödie als Überlebender 60 Jahre lang verheimlicht, sogar vor seinem Sohn.
Oder die Geschichte von Stefano, dem versteckten Kind, das in Lo stagionale (1972) die Hauptrolle spielt. Er starb im Alter von 31 Jahren an einer Überdosis, wie viele seiner Altersgenossen italienischer Herkunft. Droga, che fare? (1996) ist dein härtester Film. Er erzählt von fast unerträglichen Schmerzen und Schrecken. Vor zwei Jahren zeigtest du ihn am Festival von Turin, als Dank an ANAC, den italienischen Verband der Filmautoren, der dir den Preis für dein Lebenswerk verliehen hatte.
Im Film Suisse, terre d'asile? (1994) begleiteten du und deine Frau Kathy monatelang eine Familie rumänischer Asylbewerber. Nach Anordnung der Zwangsausschaffung hattet ihr bei den Behörden vermittelt, um einen Aufschub von einigen Wochen zu erwirken, der dem Kind Daniel ermöglicht hätte, das Schuljahr zu beenden. Ihr wart empört über das Ausbleiben einer positiven Antwort und pflegtet die Beziehungen zur Familie Chitic auch nach deren Rückkehr nach Rumänien weiter. Daniel ist heute ein brillanter Anwalt.
Mit deinem stets wachsamen Auge für die Lage der Kinder hast du bis vor wenigen Wochen monatelang fast täglich die Arbeit der Schule Cino da Pistoia von deinem Studiofenster aus gefilmt. Doch dieses Mal werden wir deinen Film nicht sehen können.
In der von dir selbst zusammengestellten Filmografie figurieren 12 Werke. Filme von 1970 bis 2017. Ich habe mehr gesehen. Du hast das Leben jener, die wie du Migranten waren, deiner Kampfgefährten, deiner Freunde und Familienangehörigen dokumentiert. In den letzten Jahren hast du sehr viel Zeit darauf verwendet, diesen Figuren, diesen Frauen und Männern, ihre Erinnerungen zurückzugeben. Du hast Hunderte von DVDs produziert, selbst mit Text unterlegt, untertitelt und ihnen dann überlassen. Und in diesen "Familienvideoalben" finden sich Bilder von der Überschwemmung in Florenz, dem Erdbeben im Friaul, von 1. Mai-Umzügen, Frauendemonstrationen, Kundgebungen, Militärparaden, Solidaritätsmärschen für Asylbewerber, lustigen Sketchen, die auf einem französischen Sender gezeigt wurden.
In deinen Werken vermischst du Öffentliches und Privates, Leben und Kunst, Kunst und Politik. Du hast nie aufgehört, mit dem Film zu "spielen": Du drehst, schneidest, zerlegst wieder, schneidest erneut, retuschierst Bilder, passt sie dem Lauf der Zeit an und hältst sie lebendig.
Jetzt liegt es an mir, diese Bilder, deine Vergangenheit, die in den letzten 26 Jahren zu unserer geworden ist, abzuspulen, herunterzuladen und neu zu schneiden. Wir haben 26 Jahre zusammengearbeitet, es waren Jahre des Staunens und der Frustration, denn jedes Mal, wenn ich dich in Pistoia besuchte, hattest du "eine Überraschung für Morena" bereit: eine Nachricht von Zavattini, ein Mitgliedsausweis der Colonia, ein Visum für ein Festival in Moskau, ein Foto, aufgenommen vor einer Saisonnier-Baracke in der Schweiz, eine neue Version von Il treno del sud (1970), den du als deinen ersten Film betrachtetest, unter Ausblendung dessen, was du zuvor gemacht hattest, nach deiner Übersetzung von Sartre.
Im Laufe der Jahre habe ich sehr viel über dich geschrieben, aber immer mit dem Risiko, dass später etwas durch neue Fakten, neue Geschichten, neue Dokumente widerlegt werden könnte. Das Projekt einer Monografie ist ein unvollendetes Mosaik geblieben. Jetzt bin ich allein auf mich gestellt, du bist nicht mehr da, um Daten, Orte, Namen, Geschichten, Anekdoten zu korrigieren.
1955 hast du Campo Tizzoro im Alter von zwanzig Jahren verlassen. Dein Vater hatte dich dazu überredet, mit dem Versprechen, du würdest Fussballer werden. Da war das Geschäft Sali e Tabacchi, das du erben solltest. Von Zurzach bis Biel hast du zwei Sprachen gelernt, und du hast sogar denen, die nach dir gekommen sind, Deutsch beigebracht. Du lerntest den Wert der Solidarität kennen, von den "Lehrern" der Colonie Libere und von den Filmemacherkollegen, die wie du zur Kamera griffen, um "gegen die Ungerechtigkeit, die Diskriminierung und den Rassismus zu kämpfen, deren Opfer oft die Ausländer sind". Du warst Schmied und Lehrer, Verkäufer in einem Fotogeschäft, wo du gelernt hast, mit der Kamera umzugehen und deine ersten Filme zu drehen, und schliesslich Möbelverkäufer. Und immer warst du Filmemacher. Von Porretta, Solothurn, Berlin, Montreal, Venedig, Florenz, bis in die entlegensten Dörfer des Juras, immer mit Filmrollen und Projektoren, um zu zeigen, zu bezeugen, um schlummernde Gewissen aufzurütteln.
1998, nach 43 Jahren in der Emigration, kehrtest du nach Pistoia zurück, immer noch als Filmemacher, mit der Rente eines Möbelhändlers und Dutzenden von Kisten mit Werken und Werkzeugen für deine Kunst, die auch dein Handwerk war. Filme in verschiedenen Formaten, Videokassetten, Fotos, Dias, Filmrollen, Presse- und Produktionsunterlagen sowie mehrere Bolex- und Kodak-Filmkameras, Fernsehkameras und ein Nagra. In diesen Erbstücken fand ich auch ein von Bern abgelehntes Dossier, ein Drehbuch, an dem du jahrelang gearbeitet hattest. Enttäuschung, eine weitere Absage.
1998 kam ich dann in die Schweiz. Nach einem Abschluss mit Höchstnoten und einem Jahr Arbeitslosigkeit hatte man mein Forschungsprojekt über die italienische Auswanderung genehmigt. Unsere Geschichten von Auswanderung und Film waren dazu bestimmt, sich zu treffen. Damals gab es noch keine "Geschichte der italienischen Auswanderung in die Schweiz", und niemand war wirklich bereit, sie zu erzählen. Ich war auf der Suche nach Bildern zu dieser Geschichte und stiess auf dich.
2003 bist du in Lausanne gelandet, mit Filmrollen und einem 16mm-Projektor, um in der Maison du peuple unser Festival Reconnaissances. Ritals, Tchings, Secondos, ... Italiens et Italiennes de Suisse zu eröffnen. Es war der 60. Geburtstag der Colonie Libere und ich war gerade zu deren Präsidentin ernannt worden. Seit drei Jahren hatten wir den Cine-Club in der Colonia Libera in Lausanne. Die Filmclubs in den Colonie blickten auf eine lange Geschichte zurück, die du als erster geprägt hast. Als Animator des Filmclubs in der Colonia von Biel, im 68er-Klima, hatte dir Germis Il cammino della speranza (1950) die Augen geöffnet und dein Bedürfnis legitimiert, die Geschichten derjenigen zu erzählen, die deine Lebenslage teilten. Wir haben die meisten deiner "offiziellen" Filme gezeigt: Il treno del Sud (1970); Lo stagionale (1972); Il rovescio della medaglia (1974); Pagine di vita dell'emigrazione (1977); L'autre Suisse (1988); Touchol (1990); Asyl (1992); Suisse, terre d'asile? (1994). Dein Projektor war "drehmüde" und du sagtest, du hättest "die Kamera an den Nagel gehängt". Zum Glück traf das nicht zu.
2009 erntete die Box Accolti a braccia chiuse mit fünf deiner Filme grosses Lob. Dank deiner Bilder wurde ein verletztes kollektives Gedächtnis anerkannt, das auf eine gewisse Weise den Status einer öffentlichen Geschichte erhielt.
Als ich dir 2015 meinen Dissertationsfilm über dich und mit dir, Memoria e utopia. Alvaro Bizzarri cineasta migrante, zeigte, sagtest du mir: "Ich will keinen Kommentar abgeben, denn du bist eine Filmemacherin. Ich kann dir nur sagen, dass das, was du sagst, wahr ist". Dieses Urteil war für mich wichtiger als das der Kommission, die meine Dissertation begutachtete. Denn die Wahrheit ist unsere "grandiose Besessenheit", eine gerechte Wahrheit, unsere gemeinsame Utopie.
Und um die Wahrheit aufzubauen, muss man sich exponieren, sich engagieren, sich hinterfragen, sich selbst und in den Beziehungen mit den andern, wie du es immer getan hast. Einige "Genossen" der Colonie hatten die "allzu sentimentalen" und subjektiven Szenen über die Einsamkeit von "Paolo il rosso", dem Hauptdarsteller deines ersten in Biel gedrehten Films, Il treno del sud (1970), kritisiert und sogar verspottet. Du hast den Film im Badezimmer der Werkstatt geschrieben, in der du als Schmied arbeitetest; "Paolo il rosso", ebenfalls ein Schmied, war dein Alter Ego. Als eine wissenschaftliche Zeitschrift mich bat, einen Artikel über dich umzuschreiben, weil ich in der ersten Person geschrieben hatte, wurde mir klar, dass das der richtige Weg war. Es war notwendig, sich auf Augenhöhe zu begegnen, nah an den Menschen zu sein. Die anderen würden es früher oder später verstehen. So warst du und so hätte ich sein sollen, vollkommen bewusst und gleichzeitig unbewusst: ein unermüdlicher Zeuge.
Bologna, 18. Dezember 2024
- Morena La Barba
Der Film «Lo stagionale» ist jetzt auf Streamingplattformen via filmo.ch verfügbar.
Originaltext: italienisch, Übersetzung: Karin Leoni/Mediamix.3