«Die Anhörung» von Lisa Gerig
Der Preisträgerfilm besticht durch die Menschlichkeit, welche er all seinen Personen zugesteht und entgegenbringt, und die transparent gemachte Grundanlage. In sterilen Büroräumen entfalten sich über Aussagen, Andeutungen und Unausgesprochenem die erschütternden Schicksale von vier Menschen, und, obwohl wir als Publikum Zeuge waren beim Aufbau des Settings und darüber informiert sind, dass hier ein bereits geschehener Vorgang wiederholt wird, ist die Authentizität der Gespräche eindrücklich und schmerzhaft. Der Film beteiligt uns am Prozess und fordert uns auf, zu beobachten, Schlüsse zu ziehen, ein Urteil zu fällen und vor allem, uns in die Lage der andern zu versetzen. Dies gilt für die Geprüften in ihrer katastrophalen Situation ebenso wie für die Prüfenden in ihrem Arbeitsalltag. Die Zuschauer:innen werden mit ihren Privilegien konfrontiert und der Ungewissheit ihrer Chancen und ihres Handelns in Situationen von Macht oder Ohnmacht ausgesetzt.
Formal überzeugend und wie selbstverständlich setzt die Regisseurin eine Vielfalt von Wirklichkeitsebenen und Inszenierungsformen ein, die fundamentalen Möglichkeiten von Kino. Sie punktiert dokumentarisch nachgespielte Szenen mit der ausserfilmischen Realität von Drehpausen und ergänzt sie mit Aufnahmen, in denen die Protagonist:innen das Erlebte selbst kommentieren. Zuletzt befreit das Wunder der Fiktion die Opfer aus der Opferrolle und die Beamten aus der Machtposition; ein Raum der Komik und ausgleichenden Gerechtigkeit eröffnet sich. Innovativ und stringent gestaltet, gut gedacht und gut gemacht, vermag der Dokumentarfilm mit sehr ernstem Thema und gewollt limitiertem Fokus das Publikum in jedem Moment zu fesseln. Wir haben allen an dem Film Beteiligten zu danken, insbesondere den Auftretenden für ihren Mut.
Der Prix de Soleure 2024 geht an die Regisseurin Lisa Gerig und die Produktion Ensemble Film für ihr grossartiges berührendes Werk „Die Anhörung“.